Trends und Visionen: Das Plenum

So nah und noch so fern?
Die neue Küche braucht Herkunft!

Dott.ssa Simonetta Carbonaro,
Partnerin von REALISE strategic consultants
Professor bei Domus Academy in Mailand und Borås University in Schweden

 

La festa è finita. Die fetten Jahre sind vorbei. Seit mehreren Jahren stagnieren in der Lebensmittelbranche die Konsumausgaben, obwohl die Marketingkosten explosionsartig ansteigen. Der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel in Deutschland hat einen historischen Tiefpunkt erreicht hat.
Anstatt sich über das immer größer werdende Angebot zu freuen, verschmäht der Konsument zunehmend die Bereitschaft der Industrie, auf fast alle seine Wünsche einzugehen. Er steht vor einer Produktvielfalt, die er kaum noch überschauen kann und versucht einfach, einen Großteil der Botschaften, die täglich sintflutartig über ihn hereinbrechen, zu ignorieren.

Die Konsumenten haben sich "verkonsumiert" und es sieht so aus, als hätten wir die Grenzen des Wachstums erreicht. Wir leben nicht mehr in einer Gesellschaft, die sich dem Motto "Ich konsumiere, deshalb bin ich" verschrieben hat und in der Überfluss zum Lebenskonzept gehört. In den 60er Jahren regten die Instrumente des klassischen Marketings die Nachfrage so sehr an, dass wir dem Kaufrausch und der Kaufbulimie erlegen sind. Doch die gleichen Instrumente haben auch dazu geführt, dass unsere Kaufbereitschaft heute in ihr Gegenteil, den Kaufboykott und die Kaufanorexie umgeschlagen ist. Die Verbraucher sind in Konsumstreik getreten.

Vielleicht sind die heutigen Konsumenten deshalb in den Streik getreten, weil sie spüren, dass etwas in unserer Gesellschaft aus dem Gleichgewicht geraten ist. Verlässliche Allianzen wie beispielsweise die zwischen Produzenten, Handel und Konsumenten sind aufgebrochen.

Die reale Sprache der Natur, unser wirkliches Grundbedürfnis nach Wohlbefinden und kulturelle Identität haben in der heutigen Esskultur kaum Platz, ja sie stören sogar. So ist es kein Zufall, dass in unserer westlichen Welt die verschiedensten Arten von Essstörungen dramatisch zugenommen haben. Doch Fettleibigkeit oder der "Danse Makabre" zwischen Bulimie und Anorexie unserer Kinder sind nur die offensichtlichsten Anzeichen dieser Entwicklung.
Die verschiedenen "Tschernobyls" der Lebensmittelbranche wie die BSE-Epidemie haben das Urvertrauen in die Lebensmittelindustrie zerstört. Sie sind der eigentliche Auslöser eines Paradigmenwechsels der Gesellschaft in Bezug auf Ernährung.

Um die bestehenden Bruchstellen zu kitten, kommt es heute in erster Linie auf Transparenz und Identität an. Der Konsument muss die Bedeutung der einzelnen Wertschöpfungsstufen wieder beurteilen können. Es muss ihm möglich sein, die so wichtigen Zusammenhänge zwischen der Qualität eines Produktes, seiner Herkunft und den Bedingungen seiner Entstehung nachzuvollziehen.

Heute geht es dem Konsumenten um sehr viel mehr als nur darum, dass das Essen gut schmeckt, es geht ihm um ein neues Wertesystem, in dem kulturelle Identität und die Qualität des Lebens im Mittelpunk stehen .

Das Essen verkörpert einen der empfindlichsten Seismographen für gesellschaftliche Dynamiken. Wertverschiebungen und Veränderungen in den Lebensstilen wirken sich am ummittelbarsten in den Essgewohnheiten aus. So ist es gerade für die Food Branche überlebenswichtiger als für andere Branchen, soziale Veränderungen nicht nur sehr frühzeitig erfassen, sondern sogar antizipieren zu können.

Der Markt gleicht heute einem sich in ständigem Aufruhr befindlichen Ozean. Um zu überleben darf man nicht stur einen einmal festgelegten Kurs halten, sondern muss sich klug dem jeweiligen Wellengang anpassen können. Man muss also auf Sicht navigieren können und man muss mit den Meeresströmungen und den Winden vertraut sein.

Aufgabe unseres Workshops wird die Darstellung eines neuen Navigationsinstrument sein und zwar einer sozio-kulturellen Matrix , die auf Basis von Recherche und Erfahrung entwickelt wurde. Mit dieser Art Wind- uns Strömungskarte werden wir versuchen die großen sozialen und kulturellen Bewegungen, die die Food-Branche im allgemeinen betreffen zu verstehen und kreativ und innovativ zu interpretieren.

Literatur
"Was ist Mehr-Wert für den Magen?" von Simonetta Carbonaro und Christian Votava- "Impuls"- Gottlieb Duttweiler Verlag - 1.03- Seite 44.

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